Herbst 2016_alt

„Differenzierung des chronisch-progredienten Verlaufes der Multiplen Sklerose“

Hinter der Diagnose „Multiple Sklerose“ verbergen sich ganz verschiedene Verlaufsformen, wie es auch durch das Schlagwort „ Die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“ zum Ausdruck kommt. Die bekannteste und zu Beginn der Erkrankung auch häufigste Verlaufsform ist die „schubförmig remittierend“ verlaufende MS. Die neurologischen Defizite treten hierbei relativ plötzlich auf und bilden sich zumeist weitgehend zurück. Dieser Verlaufsform liegen vorwiegend entzündliche Prozesse zu Grunde, die medikamentös inzwischen mit einem gewissen Erfolg günstig beeinflusst werden können.

Nach 10-15 Jahren Krankheitsdauer geht allerdings bei ca. der Hälfte der Patienten der anfangs schubförmig-remittierende Verlauf der Krankheit in die so genannte sekundär chronisch progrediente Phase über. Hierbei schreitet die Behinderung nicht schubförmig, sondern langsam schleichend voran. (Bei einem kleinen Prozentsatz der MS Betroffenen verläuft die Krankheit von vornherein chronisch progredient und ohne Schübe; man spricht von „primär progredienter MS“.)

Dem progredienten Verlauf liegen weniger entzündliche, sondern eher so genannte degenerative Prozesse zu Grunde, das heißt, es kommt zu einem schleichenden Untergang von Nervenzellen. Für diese Verlaufsformen sind die therapeutischen Konzepte besonders unbefriedigend und wenig erfolgreich. Das liegt vor allem daran, dass die wesentlichen krankhaften Prozesse, die diese Progredienz antreiben, bisher nur sehr unvollständig verstanden sind.

•    Die Arbeitsgruppe um Prof. Kerschensteiner  hat nun damit begonnen, sich mit dieser progredienten Phase der Multiplen Sklerose zu beschäftigen. Bekannt ist, dass in dieser Krankheitsphase der MS nicht mehr nur die weiße Substanz, sondern zunehmend auch die graue Substanz (z.B. die Hirnrinde) geschädigt wird. Um die krankhaften Prozesse in der Hirnrinde besser zu verstehen, hat das Team von Prof. Kerschensteiner in Zusammenarbeit mit Prof. Merkler von der Universität Genf mit Hilfe einer speziellen Färbetechnik Nervenzellen mit allen ihren Fortsätzen in der Hirnrinde dargestellt. Diese Untersuchungen zeigten überraschend, dass es zu einem ausgeprägten Verlust der Synapsen, also der Kontaktpunkte zwischen einzelnen Nervenzellen, kommt. Dieser Synapsenverlust zeigt sich in der gesamten Hirnrinde, also auch bei Nervenzellen, die sich in der ansonsten unauffälligen grauen Substanz befinden. Diese völlig neuen Erkenntnisse weisen darauf hin, dass der Synapsenverlust ein sehr früher und damit ggfls. auch für die Krankheitsentstehung besonders wichtiger Aspekt der progredienten MS ist. In nachfolgenden Studien hat Prof. Kerschensteiner ein experimentelles Modell der cortikalen MS, also der Prozesse in der Hirnrinde, entwickelt, das es erlaubt, die Mechanismen des Synapsenverlust besser zu verstehen und neue Therapiestrategien zu entwickeln, die dies verhindern können.
Publikation:
Jürgens T, Jafari M, Kreutzfeldt M, Bahn E, Brück W,  Kerschensteiner M* & Merkler D*. 
Reconstruction of single cortical projection neurons reveals primary spine loss in multiple sclerosis.

Brain 139, 39-46 (2016)(*) co-senior author